Psychologisches Phänomen
Infantile Amnesie: Darum kannst du dich an deine Kindheit schlecht erinnern
- Aktualisiert: 27.06.2024
- 04:33 Uhr
- Julia Wolfer
Die ersten Lebensjahre eines Menschen gelten als besonders wichtig in der Entwicklung. Dennoch können wir uns nicht an diese Zeit erinnern. Psycholog:innen bezeichnen das als infantile Amnesie. Was hat es damit auf sich?
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Das Wichtigste in Kürze
Unsere frühesten Kindheits-Erinnerungen beginnen meist im Alter von zwei Jahren und bleiben bis ins höhere Kindesalter bruchstückhaft. An die Zeit davor können wir uns in aller Regel nicht erinnern.
In der Psychologie nennt man diese Gedächtnislücken infantile Amnesie.
Die Ursache für dieses Phänomen ist nicht bis ins Detail geklärt. Es gibt aber verschiedene Erklärungsansätze.
Expert:innen vermuten unter anderem, dass es mit Umbauarbeiten im Gehirn und der frühen Sprachentwicklung zusammenhängen könnte.
Es gibt Hinweise darauf, dass die frühen Erinnerungen tatsächlich noch gespeichert sind. Es gelingt uns allerdings nicht, diese abzurufen.
Infantile Amnesie: Was ist das?
Der Fachbegriff infantile Amnesie stammt aus der Psychologie bezeichnet das Phänomen, dass wir uns als Erwachsene nicht an unsere ersten zwei bis drei Lebensjahre erinnern können. Auch die Erinnerungen bis ins Schulalter sind meist nur lückenhaft.
Dabei haben auch Kleinkinder ein Gedächtnis: Schon Säuglinge und Neugeborene können sich etwa an Gesichter oder Spielzeuge erinnern. Sie vergessen allerdings schneller als Erwachsene. Erst mit zunehmendem Alter können Kinder Dinge immer länger im Gedächtnis behalten.
Mit dem normalen Vergessen über die Zeit hinweg lässt sich die infantile Amnesie nicht erklären. Forscher:innen vermuten, dass es mit der Entwicklung unseres Gehirns zusammenhängt.
Im Video: Warum vergessen wir wichtige Erinnerungen?
Ab wann können sich Kinder erinnern?
- Unsere frühesten, abrufbaren Erinnerungen stammen meist aus der Zeit um das dritte Lebensjahr. Bei manchen setzt die erste Erinnerung etwas früher ein, bei anderen etwas später.
- Häufig beziehen sich die ersten Erinnerungen auf profane Alltags-Szenen. Das ist ein guter Hinweis darauf, dass die Erinnerung nicht nachträglich durch Erzählung "eingepflanzt" wurde, sondern tatsächlich eine Erinnerung ist.
- Die eine erste Erinnerung gibt es laut Forscher:innen auch gar nicht: Die erste Erinnerung kann sich im Laufe der Zeit verändern. Je nachdem, wo wir gerade im Leben stehen, können neue erste Erinnerungen auftauchen.
- Bei der ersten Erinnerung gibt es kulturelle Unterschiede: In kollektiv strukturierten Kulturen, in denen die Gemeinschaft stärker betont wird als das Individuum, setzen die ersten Erinnerungen später ein, als in westlichen Kulturen.
Wie entwickelt sich unser Gehirn?
Wir Menschen kommen mit einem unreifen Gehirn auf die Welt. Das hat den Vorteil, dass wir uns an die Umwelt anpassen können. Einige Teile unseres Gehirns sind sogar erst mit Ende zwanzig vollständig entwickelt.
Die ersten drei Lebensjahre sind bei der Gehirn-Entwicklung eine wichtige Phase: Die Anzahl der Verbindungen zwischen den Nervenzellen, die sogenannten Synapsen, nehmen in dieser Zeit rasant zu. So entsteht nach und nach ein hochkomplexes neuronales Netz, in dem jede Nervenzelle mit Tausenden anderer Neurone verbunden ist.
Der Hippocampus, der für Gedächtnisbildung von Kurzzeit- zu Langzeit-Gedächtnis beteiligt ist, wird in den ersten Lebensjahren besonders stark umgebaut. Das dürfte sich wohl auf die Erinnerungs-Fähigkeit in frühen Jahren auswirken. Erst bei Vierzehn- bis Fünfzehn-Jährigen ist diese Hirn-Region vollständig entwickelt.
Wie lässt sich die infantile Amnesie erklären?
Warum wir uns an unsere ersten Lebensjahre nicht erinnern, ist nicht vollständig aufgeklärt. Doch es gibt verschiedene Erklärungsansätze:
- Bei Kindern ist ein wichtiger Teil des Gehirns, der Hippocampus, noch unreif. Er spielt eine entscheidende Rolle beim Abrufen von Erinnerungen. Nach der Geburt werden dort besonders viele Neuronen gebildet. Was in dieser Zeit dort gespeichert wird, wird wieder aufgebrochen und neu organisiert. Das könnte diese frühen Erinnerungen anfällig für Fehler und Vergessen machen.
- Hirn-Regionen, die Erinnerungen kurzfristig speichern, sind im Kindesalter noch nicht mit dem Langzeit-Gedächtnis verbunden. Auch das könnte dazu beitragen, dass wir uns später nicht an die ersten Jahre erinnern können.
- Manche Forscher:innen glauben, dass frühe Kindheits-Erinnerungen zu wenige kontextabhängige Details enthalten. Solche Details helfen uns im späteren Leben, Erinnerungen wie "Haken" an bestimmte Gehirn-Regionen zu "heften".
- Ein weiterer Erklärungsversuch setzt auf die Rolle der Sprache: Demnach können wir Erinnerung, die entstanden sind, bevor wir sprechen konnten, nach dem Sprach-Erwerb nicht wiederfinden. Bei Kindern mit früher Sprachentwicklung setzt demnach auch das autobiografische Gedächtnis früher ein.
Auch bei Tieren gibt es ein "frühes Vergessen" – das spricht für eine biologische Ursache wie die Hippocampus-Theorie. In Tierversuchen wurde gezeigt, dass Ratten stabilere Langzeit-Erinnerungen bilden können, wenn die Neuproduktion von Neuronen im Hippocampus abnimmt.
Sind die frühen Erinnerungen noch gespeichert und kommt man an sie heran?
Es gibt Hinweise darauf, dass zumindest manche frühen Erinnerungen tatsächlich noch da sind. Bei Tieren konnten frühe Erinnerungen im Labor unter den exakt gleichen Bedingungen wieder aktiviert werden. Bei Menschen ist das allerdings schwer umzusetzen.
Eltern können bis zu einem gewissen Grad beeinflussen, wie früh sich das Kind erinnert: Sprechen sie mit ihrem Kind am Abend über die Erlebnisse des Tages, trainieren sie das Gedächtnis der Kinder und helfen, Erlebnisse in eine zusammenhängende Struktur zu bringen. Dann beginnt das autobiografische Erinnern früher.
Ein Problem beim Versuch, sich aktiv zum Beispiel durch Hypnose zu erinnern, sind "False Memorys": Nach Ansicht von Expert:innen besteht die Gefahr, dass projizierte Erinnerungen auftreten, die nicht auf reale Erlebtes zurückzuführen sind.