Gleichberechtigung
Matilda-Effekt: So wurden und werden Frauen in der Wissenschaft diskriminiert
- Veröffentlicht: 12.02.2024
- 05:00 Uhr
- Sven Hasselberg
Wie wichtig Frauen für die Wissenschaft waren und sind, wird nach wie vor oft geleugnet. Die Erfolge und die Anerkennung heimsten in der Regel die Männer ein. Dieses Phänomen wird auch Matilda-Effekt genannt. Aber wie kommt es dazu?
Matilda-Effekt: Das Wichtigste in Kürze
Der Matilda-Effekt beschreibt die systematische Diskriminierung von Wissenschaftlerinnen. Forscherinnen wurden und werden bei Preisen oft übergangen, bei Studien nicht genannt und erhalten weniger Professuren.
Berühmtestes Beispiel ist wohl Lise Meitner, die 1944/45 trotz ihrem immensen Beitrag zur Entdeckung der Kernspaltung vollkommen übergangen wurde, während der Nobelpreis in Chemie nur an ihren Kollegen Otto Hahn ging.
Auch heute empfinden die Menschen laut Studien männliche Wissenschaftler subjektiv oft als kompetenter. Mehr dazu erfährst du unten.
Marie Curie: Wie sie unser Leben veränderte
Galileo Spezial Superbrains - Marie Curie
Was steckt hinter dem Matilda-Effekt?
Die amerikanische Frauenrechtlerin Matilda Joslyn Gage (1826-1898) schrieb 1870 in ihrem Text "Frauen als Erfinder" das erste Mal, dass es zahlreiche Frauen in der Wissenschaft und Technik gäbe, diese aber totgeschwiegen werden. Sie mahnte an, dass die damals weitverbreiteten Vorurteile, Frauen besäßen keinerlei Talent für die Wissenschaft und könnten nicht logisch denken, falsch sind.
1993 griff die Historikerin Margaret W. Rossiter diesen Essay auf, erforschte das Phänomen näher und benannte den Effekt nach Matilda.
Erst in jüngster Zeit werden Frauen in der Wissenschaft mehr wahrgenommen. Dennoch ist auch heute keine wirkliche Gleichberechtigung festzustellen. So dauerte es bis 2020 bis ein rein weibliches Team, Jennifer A. Doudna und Emmanuelle Charpentier, den Nobelpreis in Chemie erhielt: für die Entdeckung der Gen-Schere
Doch der Matilda-Effekt beinhaltet nicht nur das Übergehen bei einer Preisverleihung, sondern umfasst auch die alltägliche Sichtbarkeit. So werden Wissenschaftlerinnen weniger zitiert oder in Studien angeführt. Das bewirkt einen Teufelskreis. Werden die Wissenschaftlerinnen nicht wahrgenommen, ihre Verdienste nicht gewürdigt, folgt daraus, dass die subjektive Meinung besteht, Frauen seien in der Wissenschaft nicht so erfolgreich. Das führt wiederum dazu, dass sie weniger ernst genommen werden.
Dieses Phänomen ist auch Teil des Matthäus-Effekts, benannt nach dem Evangelium in der Bibel und dem Satz: "Denn wer da hat, dem wird gegeben, dass er die Fülle habe; wer aber nicht hat, dem wird auch das genommen, was er hat." (Matthäus 25, 29).
Männer werden also auf Grund ihrer früheren Erfolge über Jahrhunderte mehr hervorgehoben und als glaubwürdiger empfunden als die Frauen, deren Erfolge ignoriert wurden.
Matilda-Effekt: So wurden und werden Frauen übersehen
Neben der oben genannten Lise Meitner gibt es zahlreiche Wissenschaftlerinnen, die übergangen wurden. So ging 1962 der Ruhm von Rosalind Franklin für ihren Beweis der Struktur der DNA-Doppelhelix nur an ihre männlichen Kollegen Watson und Crick. Die amerikanische Astronomin Marie Mitchel, die 1848 als erste Frau in die Academy of Arts and Sciences aufgenommen wurde, kennt heute fast niemand. Auch Albert Einsteins erste Frau Mileva Maric soll ihm bei der Entdeckung der Relativitätstheorie nicht nur als Gesprächspartnerin geholfen haben.
Viele denken bei Wissenschaftlerinnen gleich an Maire Curie. Die ganze zweimal den Nobelpreis für ihre Arbeit um die Entdeckung der Radioaktivität und verschiedener Elemente erhielt. 1903 musste sie sich den für Physik allerdings mit ihrem Ehemann Pierre und dem Kollegen Becquerel teilen. 1911 bekam sie den für Chemie dann allein.
1901 bis 2023 wurden 621 Nobelpreise verliehen. Diese gingen an 965 Einzelpersonen Nur 65 davon gingen an Frauen! Dabei ist deren Anteil in den Kategorien Frieden und Literatur am größten. In den Naturwissenschaften ist die Prozentzahl noch erschreckender. Die folgende Grafik zeigt dir das genaue Verhältnis.
Doch es geht nicht nur um die großen internationalen Preise und deren Geschichte. 2021 waren 52 Prozent der Student:innen, die an deutschen Hochschulen ein Studium begangen weiblich. Auch 53 Prozent, der Absolvent:innen, die einen Abschluss ohne Promotion erlangten, waren weiblich. Dennoch waren nur 27 Prozent der Vollzeit-Professuren mit Frauen besetzt. Während Frauen zu Beginn der akademischen Karriere gleich vertreten sind, werden sie auf dem Weg nach oben weniger berücksichtigt.
Matilda-Effekt: Preis, verdächtig
Wie kommt es zum Matilda-Effekt?
Dies hat mit der grundsätzlichen Diskriminierung der Frau auf sämtlichen gesellschaftlichen und vor allem auch beruflichen Feldern zu tun. Eine Wissenschaft, die beispielsweise die Diagnose der "Hysterie" über Jahrhunderte lang als rein weibliches Syndrom beschrieb, sah Frauen nicht im Stande, wissenschaftliche Arbeiten zu leisten. Hysteria bedeutet im Griechischen so viel wie Gebärmutter. Frauen wurden auf das Mutter- und Hausfrauendasein begrenzt. Der Weg zur höheren Bildung wurde ihnen lange verschlossen und wird dies in vielen Teilen der Welt immer noch.
Doch selbst in Europa waren wissenschaftliche Positionen bis vor wenigen Jahrzehnten Frauen vor allem als Assistentinnen oder Sekretärinnen zugestanden. Selbst in Deutschland konnten Männer bis in die 70er-Jahre noch bestimmen, ob ihre Ehefrauen überhaupt arbeiten durften oder für diese einfach kündigen. Das gleiche galt lange für das Eröffnen eines Kontos.
Gleich der viel diskutierten Gender Pay Gap, die aufweist, dass Frauen für gleiche Arbeit noch nicht den gleichen Lohn bekommen, gibt es auch die Gender Citation Gap. Die zeigt, dass Frauen in der Wissenschaft auch weniger zitiert werden. Hierzu gibt es Studien, dass dies in manchen Disziplinen bis zu 40 Prozent weniger geschieht.
Zudem wurde die Wissenschaft sehr lange nicht als gemeinschaftliche Disziplin gesehen. Die "Great Man Theory" stand dafür, dass einzelne strahlende Helden die Weltgeschichte und somit auch die Wissenschaft dominieren. Diese Helden waren meist männlich. Assistenten, die die Arbeit verrichteten, wurde nicht wahrgenommen, geschweige denn die Assistentinnen. Erst in jüngster Zeit wird Wissenschaft zunehmend als eine Team-Disziplin gesehen.
Wie können Frauen in der Wissenschaft mehr Anerkennung bekommen?
Dies beginnt vor allem mit dem Aufheben der Gender-Citation-Gap. Frauen müssen mehr zitiert werden, in Studien darf ihr Beitrag nicht mehr unter den Tisch fallen. Auch die Presse muss ihnen mehr Sichtbarkeit geben. Es dürfen nicht mehr nur männliche Professoren interviewt werden, der Anteil von Wissenschaftlerinnen, denen ein öffentliches Forum geboten wird, muss erhöht werden. Ihre Leistung muss anerkannt und nicht weiter verschwiegen werden.
Weiterhin müssen Frauen als Autorinnen ernster genommen werden. Denn immer noch trauen viele Leser:innen männlichen Wissenschaftlern und Autoren eine größere Kompetenz zu, da sie es einfach gewohnt sind, mehr männliche Namen unter Artikeln zu lesen, männliche Protagonisten in wissenschaftlichen Beiträgen oder am Rednerpult auf Kongressen und im Hörsaal zu sehen.